SPEKTRUM DER HOMÖOPATHIE
Britta Dähnrich und Martin Jakob
¦ Anomodon viticulosus
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MOOSE UND FARNE
bindung, weil er kein Muslim war. Dadurch entstand eine un-
glaubliche Gefühlsverwirrung, wie Wut, Frustration etc. In dieser
Zeit hat sie ihren schulischen Abschluss „vermasselt“. Es war
ein Schock (Moos) für sie, dass ihre Mutter sie so weit getrie-
ben hatte, dass sie nicht mehr klar denken konnte. Ihre Mutter
hatte immer versucht, ihre Religion und ihre Kultur aufrecht-
zuerhalten. Die anderen waren immer die Fremden: „Wir sind
islamisch.“ Als Mädchen war das schwierig, die Weiblichkeit
wurde nicht unterstützt (Phase 2). Es war nicht erlaubt, einen
Freund aus einer anderen Religion zu haben.
Sie habe damals wegen ihrer Familie ihren Freund aufgegeben
(nachgeben, sich anpassen, Phase 2), es war eine aussichtslose
Situation. Als Frau sei man klein (Phase 2), wo sie herkomme,
habe eine Frau wenig Wert, das sei nach wie vor so. Man habe
nicht viel zu entscheiden. Man müsse in die Küche. Mädchen
werden so erzogen: In der Küche habe man etwas zu entschei-
den (Phase 6, nicht geschätzt).
Dass sie den Abschluss nicht geschafft hat, war schwierig für sie.
Sie wollte immer beweisen, dass sie es in ihrer neuen Heimat
schaffen kann (beweisen, Stadium 6), dass sie aus einer anderen
Kultur kommt und es trotzdem schafft.
Ihre Familie hatte zusammen beschlossen, dass die Beziehung
mit dem nicht muslimischen Freund nicht möglich ist. Sie bekam
damals einen Ohnmachtsanfall. Sie war überfordert: „Die Seele
schreit, und man kann nicht raus.“ Sie konnte sich deshalb nicht
auf das Lernen konzentrieren, nicht mehr denken. „Es war, wie
sich selbst zu verlieren, anwesend zu sein, aber keinen Kon-
takt zu sich selber zu haben. Man will etwas sagen, aber man
schafft es nicht.“ Der Versuch, diese Dinge zu formulieren und
auszusprechen, lässt bei ihr einen dicken, großen Kloß im Hals
entstehen. (Unfähig zu sprechen, über das Trauma, prälingual,
Konfusion, das Trauma der Vertreibung und des Krieges scheint
wieder durch? Retraumatisierung?)
Mutter:
Eine wirkliche Mutter fehlt ihr und damit alles, was das
Frausein so mit sich bringt: das Selbstverständnis, eine Frau zu
sein. Ihr fehlt es an weiblicher Unterstützung (Unterstützung,
Phase 2). Ihre Mutter war herrisch, pedantisch, sauber, ordent-
lich und hat sie in dem Stil erzogen, nach außen hin gut zu
funktionieren (sich anpassen, Phase 2).
Vater:
Der Vater war nie anwesend. Er arbeitete immer. Er ver-
suchte, ihnen in Deutschland eine Existenz aufzubauen (nie da,
Phase 6). Ihr Bruder war hyperaktiv und wurde vom Vater häu-
fig geschlagen, auch sie hat Schläge bekommen (Missbrauch,
Phase 6). In ihrer Herkunftsfamilie hat sie gelernt: „Wenn du so
bist, wie du bist, bist du schlecht.“ (Das impliziert Phase 2 – sich
anpassen – und Phase 6 – sonst bis du nichts wert).
Ehe und Familie, fehlender Selbstwert:
Sie lernte einen Mann
kennen, der auch aus dem Kosovo stammt. Ihre Eltern befür-
worteten diese Heirat. Ihr ist das Verlieben nie schwer gefallen,
und sie dachte bei sich, ihre Beziehung, ihre Liebe werde sich
schon entwickeln mit der Zeit. Sie hat zwei Kinder bekommen.
Das erste Kind war ein Schreibaby, und sie war damit total über-
fordert. Auch ihr Mann war überfordert. Er hatte die Haltung:
Du bist die Frau, du musst dich um das Kind kümmern. Es gab
Schwierigkeiten mit der Familie ihres Mannes. Sie versuchte, sich
anzupassen (Phase 2), aber die Beziehung zu ihrer Schwieger-
mutter war von Beginn an problematisch. Es gab eine Situation,
in der sie aus dem Haus ihrer Schwiegerfamilie geworfen wurde,
das habe ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie sei
nicht mehr in ihrem Körper gewesen. Die Schwiegermutter hatte
die Hand gegen sie erhoben. Es war eine brutale Erfahrung. Sie
war drei Tage zu nichts fähig.
Als Kind war sie gern in der Natur. Auch heute noch sind Wald,
Wiesen und überhaupt die Natur wichtig für sie. Dort fühlt sie
sich wohl.
Der letzte Satz in der Konsultation lautete: „Ich weiß nicht,
wer ich bin, ich nehme mich nur über das Außen, über die
anderen wahr.“
Verschreibung:
Anomodon viticulosus C30, 1 x 2 pro Woche
ANALYSE
Moose 3-300.00.00:
Krieg, Vertreibung, Bedrohung, Trauma:
Das Gefühl der Moos-Patienten ist, dass es außerhalb ihrer
Fähigkeit liegt, etwas gegen die äußeren Umstände zu tun.
Es liegt außerhalb ihrer Macht, sie müssen dem „Willen der
Natur oder der Götter“ nachgeben. Es bringt sie in einen Zu-
stand der Verwirrung, in dem sie nicht wissen, was sie sagen,
sehen oder tun sollen. Sie fühlen sich hilflos, sie wissen nicht,
wie sie mit der Lage umgehen sollen. Sie haben das Gefühl,
keinen Boden unter den Füßen zu haben, sowohl emotional
als auch in der Wirklichkeit. Oftmals haben sie kein eigenes
Zuhause. Diese Arzneien können für Nomaden, Sinti, Roma,
Obdachlose etc. wichtig sein. (Moose haben keine Wurzeln). Die
Patientin leidet unter ihrer Verwirrung, ihrer Aussichtslosigkeit
und unter „seelischen Ohnmachtsanfällen“. Sie lebte als Kind
ein Jahr in einer Flüchtlingsunterkunft. Moos-Patienten leiden
unter Beschwerden von Traumata, die nicht einmal als solche
von ihnen wahrgenommen werden, die unterdrückt sind. Ihre
Probleme sind schwer zurückzuverfolgen. Es kann sich um Krieg
und Vertreibung etc. handeln. Damit einher geht das Gefühl,
nicht zu wissen, wer man ist: eine Art von tiefer Verwirrung,
von Erinnerungen, die ihrem Bewusstsein nicht zugänglich sind.
3-333.60.00 Thuidiales, Phase 6:
Sie fühlt sich als Frau nicht
wertgeschätzt. Ihr Vater war nicht anwesend (= vernachlässigt).
Dies bestätigt die Phase 6.
3-333.62.00 Anomodonaceae, Subphase 2:
< Kritik, keine
Unterstützung von ihrer Mutter, nach außen hin funktionieren,
sich anpassen und nachgeben müssen. Das Gefühl, überfordert
zu sein.
3-333.62.06 Anomodon viticulosus:
beweisen wollen, dass
sie es auch in einer anderen Kultur schafft
FOLLOW-UPS
Nach 5 Monaten und nach 14 Monaten:
Ihre Menstruation
ist jetzt normal. Sie hat ihre Beziehung beendet, sie ist jetzt al-
leinerziehende Mutter. Es war für sie schwierig, weil der Konflikt